Europäische Tröpfchen-Folter

Damals in den goldenen 90ern kannte man Sonderwirtschafts- oder Freihandelszonen nur aus unseren geliebten Zulieferstaaten. Aus China, Vietnam, Thailand, Mexiko. Teils hermetisch abgeriegelte Industriegebiete, in denen bis heute zigtausende von Arbeiterinnen und Arbeitern unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten und leben. Naomi Klein beschrieb im Jahr 2000 in ihrem globalisierungskritischen Buch „No Logo“ Sonderwirtschaftszonen folgendermaßen:

Gleichgültig, wo sich die EPZs (export processing zones, Anm. D. Prochnow) befinden, das Schicksal ihrer Arbeitskräfte ist von deprimierender Ähnlichkeit: Der Arbeitstag ist lang – 14 Stunden in Sri Lanka, 12 Stunden in Indonesien, 16 Stunden in Südchina, 12 auf den Philippinen. Die überwältigende Mehrheit der Arbeitskräfte sind Frauen, immer jung und immer von den Auftragnehmern aus Korea, Taiwan oder Hongkong oder deren Subunternehmern angeworben. Diese Unternehmen erfüllen in der Regel Aufträge von Konzernen mit Sitz in den USA, Großbritannien, Japan, Deutschland oder Kanada. Die Verwaltung der EPZs ist militärisch, die Aufseher neigen oft zu Misshandlungen, die Löhne liegen unter dem Existenzminimum, und die Arbeit ist wenig qualifiziert und langweilig.

Klein, Naomi „No Logo“
, S. 215 f., Riemann Verlag 2000

Sonderwirtschaftszonen heißen so, weil den sich hier ansiedelnden Unternehmen großzügige Steuer- und Zollrabatte eingeräumt werden. Als trickle-down wird der angeblich erhoffte Effekt von BWL-Knallchargen und Investment-Verbrechern auf der ganzen Welt beworben und Politikern eingebläut. ‚Wenn Unternehmen weniger Steuern zahlen müssen, dann kommt das allen zu Gute. Der Wohlfahrtsgewinn ist ungemein und tröpfelt ganz sicher nach unten, zu den Angestellten durch.‘ Deswegen geht es den Fern-Angestellten in Textil- und Elektronikindustrie auch so gut, deswegen werden 400-Euro-Jobbern in Deutschland auch so überdurchschnittlich hohe Stundenlöhne gezahlt, deswegen brummt das Bochumer Nokia-Werk bis heute wie Sau: Weil Fördergelder und Steuererleichterungen für große Unternehmen in jedem Fall und so gut wie ohne Umwege in die regionale Wirtschaft fließen, gutbezahlte Arbeitsplätze generieren und – das ist sowieso das wichtigste – Wachstum schaffen. Trickle-Down funktioniert offensichtlich hervorragend.

Aus diesem Grund möchte der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD), jetzt gerne Sonderwirtschaftszonen im Süden Griechenlands einrichten. Der Griechische Staat müsse jetzt akzeptieren, dass die EU dort Reformen durchführe. Offensichtlich hofft Herr Schulz, dass sich dann vermehrt Industrie im Süden Griechenlands niederlässt und dort für Wachstum, Freude und Eierkuchen sorgt. Das könnte sogar funktionieren: Der griechische Mindestlohn ist bereits pulverisiert, die Arbeitslosigkeit hoch und die Verzweiflung groß. Warum dann nicht einfach für Kost, Logis und Nordeuropa arbeiten? Vielleicht fallen sogar noch 20 Euro zusätzlich im Monat an, die dann in vollem Umfang in die regionale Wirtschaft gepumpt werden können. Und wenn die Wirtschaftslage sich dann auf dieser Grundlage wieder bessert, werden die ausländischen Investoren sicher auch die Löhne anheben und bereitwillig regulär Steuern zahlen.

Jaja, vermutlich wäre ein Sonderwirtschaftszone im Süden Griechenlands nicht halb so schlimm wie eine Freihandelszone auf den Philippinen. Vermutlich würden die Angestellten dort keine 14-Stundenschichten fahren müssen und vermutlich auch nicht ohne Krankenversicherung auskommen müssen. Das ändert aber nichts daran, dass die Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen eine einseitige Bevorteilung von global agierenden Unternehmen bedeutet, die ganz sicher nicht bereit sein werden mehr von ihrem Vorteil nach unten durchzureichen, als unbedingt notwendig. Das haben sie nie gemacht – oder wie Paul Krugman es vor ein paar Jahren ausgedrückt hat: „Wir warten auf diesen Trickle-down-Effekt nun seit 30 Jahren – vergeblich.“

Die Existenz von Freihandelszonen, egal wo auf der Welt, ist so oder so ein Armutszeugnis für die Menschheit. Die Einrichtung solcher befestigten Außenposten (nichts anderes sind die SWZs nämlich) globaler Konzerne innerhalb der EU wäre meines Erachtens daher ein Dammbruch ohne Gleichen. Der hehre von der Europahymne getragene Traum „Alle Menschen werden Brüder“, er würde ersetzt durch ein Ideal von kapitalgestützter Hierarchie. Unter Brüdern, wer weiß, würde man Schulden vielleicht einfach Schulden sein lassen.

Roman Herzog und die repräsentative Demokratie

Ein zumindest merkwürdiges Demokratieverständnis ist es, das Altbundespräsident Herzog vertritt, wenn er sich dafür ausspricht die 5%-Hürde anzuheben, um dafür Sorge zu tragen, dass die Kanzlerin bzw. der Kanzler auch weiterhin von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung getragen werde. Die Vielzahl der Parteien, die mittlerweile realistische Chancen haben bei den Wahlen zum deutschen Bundestag die 5%-Hürde zu nehmen verunsichert Herzog derart, dass er sich zu dieser Überlegung hinreißen lässt.

Für merkwürdig um nicht zu sagen fragwürdig, halte ich dieses Verständnis unserer Demokratie vor allem aus zwei Gründen:

1. Die 5%-Sperrklausel ist ein ohnehin schon kritisch zu beäugendes Instrument der repräsentativen Demokratie. Sorgt es doch dafür, dass nicht jede Wählerstimme gleichviel wert ist und dass ausgerechnet Minderheitenmeinungen, die man aus mannigfachen Gründen als besonders schützenswert erachten kann, damit aus dem parlamentarischen Entscheidungsprozess ausgeschlossen werden. (Dass mit Blick auf die deutsche Geschichte eine Sperrklausel generell als kleineres Übel wahrgenommen werden kann, vielleicht sogar muss(?), als die Handlungsunfähigkeit des Parlamentes, sei dabei unbenommen.)

2. Schon die 5%-Hürde treibt die Wähler leicht in strategische Wahlentscheidungen und damit dazu, ihre Stimme Politikern zu schenken, die sie nicht in der Form repräsentieren, wie sie es wirklich wünschen. Eine noch höher angesetzte Sperrklausel würde diesen Effekt lediglich verstärken. Damit würde die Bundeskanzlerin bzw. der Bundeskanzler zwar auf dem Wahlzettel wieder von einer deutlicheren Mehrheit getragen, ob diese aber wirklich hinter ihrer Wahlentscheidung steht, steht auf einem ganz anderen Blatt.

Die Bedenken Roman Herzogs lassen danach vielleicht auch einen anderen Schluss zu, als den, dass die bundesdeutsche Demokratie in Zeiten der Veränderung stärker kontrolliert werden muss. Möglicherweise fordert eine größere Vielfalt von Meinungen und Wertevorstellungen in den Parlamenten auch schlicht mehr Kompromiss- und Dialogbereitschaft unter den Volksvertretern. Das mag dazu führen, dass häufiger als bislang Regierungskoalitionen platzen und es zu Neuwahlen kommt; Womöglich ist eine solche, häufigere Befragung der Wähler (gerade, wenn es um heikle politische Entscheidungen geht) aber auch deutlich demokratischer, als die eigentlich permanente Ohnmacht eines Wählers, der nur alle vier bis fünf Jahre aufgeschreckt wird an einer „Richtungswahl“ teilzunehmen.